Saša Stanišić: Vor dem Fest, Luchterhand, 316 Seiten

Für mich war es nicht so lang her. Kaum ein halbes Jahr, dass ich Stanisics ersten Roman, Wie der Soldat das Grammophon repariert gelesen habe. Trotzdem lagen zwischen den beiden acht Jahre. Angst vorm zweiten Buch gehabt? Gelohnt hat sich für alle das Warten: Vor dem Fest wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und es ist ein ausgezeichnetes Buch.


Da ist der dümmlich-dreiste Kommentar Maxim Billers zur Themenwahl (Uckermark! Dorf! Deutsche!) und die Unterstellung er sei damit bloß über das Stöckchen von Feuilleton und Buchmarkt gehüpft - hohl. Wäre auch irrwitzig, wenn jeder Deutsch schreibende Autor, der von irgendwo außerhalb Deutschlands kommt oder dessen Eltern von irgendwo außerhalb kamen, nur über misslingende oder gelingende Integration schreiben dürfte.


Stanisic hat einen sprachlich anspruchsvollen, stilistisch an seinen vorherigen anknüpfenden Roman geschrieben. Ein Tag und eine Nacht vor dem großen Dorffest dienen als Rahmen für eine Erzählung über diesen Ort Fürstenfelde. Aber diese 24 Stunden führen erzählt bis zu 500 Jahre zurück. Es tauchen immer wieder ähnliche Motive und Figuren in der Gegenwart und den eingeschobenen Chronik Abschnitten auf. Es scheint Doppelgänger zu geben und Zeitreisende, die vom Dorf nicht lassen können. Geisterkinder, die Milch trinken. Erhängte, Geköpfte und Verbrannte hinterlassen ihren Fluch und Segen. Eine „Fähe“ (weiblicher Fuchs) auf der Jagd nach Eiern begleiten wir durch Wald und Wiesen, und den ausgetüftelte Hühnerhof des napoleonisch daherkommenden Bürgermeisters. Dazu ein Haufen meist charmanter oder schrulliger Typen aus dem Dorf, jeder auf eine Rolle irgendwie festgelegt und doch Individualist (der Glöckner, der Glöcknerlerhrling, der Nazi, der Saufbold, der Ex-NVA Mann, die Leiterin des Heimatmuseums und und und).

So ein Dorf funktioniert anders. Die Geschichte ist tatsächlich präsenter, weil Familiengeschichten von Nachbarn über hunderte von Jahren bekannt, Ortsfolklore sind und z.B. ein junger Mann viel mehr der Sohn seiner Vaters, der Enkel des Großvaters und ein Kinder der Familie dieses Namens ist (und aller damit assoziierten und behaupteten Eigenschaften) als in der Stadt. Das Groteske wirkt fast immer liebenswürdig, die körperlichen oder geistigen Deformationen sind Ecken und Kanten, Belege, dass im Dorf so gar nicht alle gleich sind und denken und tun.


Das Buch machte mir etwas Mühe reinzukommen, dann aber wollte ich zwar nicht gerade wissen wie es „ausgeht“, aber wie die Motive aus ferner und naher Vergangenheit im Fest zueinanderfinden. Und ganz einfache Dinge wollte ich wissen: Besteht der Glöckner seine Prüfung, was verbirgt sich im Klimaraum des Heimathauses, schafft es die Malerin ihr Nachtbild für die Versteigerung auf dem Fest zu malen und wer war der geheimnisvolle, bei Beginn des Romans bereits verstorbene Fährmann?


Am Ende kennt man diesen Ort mit seinen Geschichten, seiner Aura, die über Jahrhunderte verdichtet scheint. Sie findet sich in Festen und in den Menschen. Ein bekannter Spruch heißt: „Man bekommt die Leute aus dem Dorf raus, aber das Dorf nicht aus den Leuten.“ Dieses Buch handelt genau davon - nur, dass damit nicht klischeehaft Kleingeistigkeit, Konservativismus und Unflexibilität gemeint ist, sondern Herkunft im wahrsten Sinne des Wortes - über Generationen und Geschichten hinweg, an diesem Ort.